Echt Ruanda – Vorbild auf den zweiten Blick

Alex lässt Musik von einer Kassette laufen, während er seinen weinroten Toyota durch den Feierabendverkehr in Kigali lenkt. Die Musik ist tanzbar. Und als ich anfange mit den Füßen zu wippen, erklärt Alex, dass es sich um Musik aus seiner Kirche handelt. Da ist dann im Gottesdienst richtig Rhythmus drin, denke ich. Sowas wünsche ich mir für Gottesdienste in meiner Heimat auch.

Eine Kundin bezahlt ihr Fahradtaxi

Den Flughafen werden wir rechtzeitig erreichen und da habe ich Ruhe,  mich an die vierzehn Tage zu erinnern, die ich in Ruanda verbracht habe. Isaac Ndamage kommt mir in den Sinn. Er ist Taxifahrer wie Alex. Allerdings transportiert Isaac seine Fracht oder Passagiere auf dem Fahrrad. Im Land der tausend Hügel hat das Fahrrad eine lange Tradition. Außer schlechter Laune transportieren Männer hier fast alles auf dem Rad. Es ist ein beinharter Job. Seelisch zermürbend sein muss er nicht. Als echter ‚Biycycle Man‘ empfiehlt Isaac Ndamage : „Ich würde in der Bibel lesen. Das erhält dich offen.“ Der sechsundzwanzigjährige Fahrradkurier aus Kigali ist einer von denen, die Engagement für Entwicklung ihres Landes wichtig finden. Deshalb liegt ihm Gemeinwohlarbeit am Herzen. „Klar bin ich Samstag in drei Wochen mit dabei“, erzählt er, „und ich lade auch meine Freunde dazu ein“.

Radtaxen transportieren fast alles

Jeder  letzte Samstag ist Umuganda Tag. Es ist ein Tag für gemeinnützige Arbeit. Den Vormittag über  leisten erwachsene Ruander Tätigkeiten, die sonst liegenbleiben. Vier Jahre nach dem Genozid besann sich die Regierung die vorkoloniale Tradition von Umuganda wieder einzuführen. Anlagen werden in Stand gehalten, öffentliche Einrichtungen renoviert und die Straßen sauberer gemacht. Nur Plastiktüten müssen nicht mehr entsorgt werden. Denn die sind seit etwa einem Jahrzehnt verboten. Die EU will nachziehen und erwägt ein Tütenverbot bis 2025 durchzusetzen.

Beim Umuganda Tag geht es allerdings um weit mehr als um Schonung der Staatskasse. Er ist ein konstanter Baustein im Rahmen des Versöhnungsprozesses. „Menschen kommen zusammen und sie reden auch über alltägliche Dinge miteinander“, erklärt Fidèle Ndayisaba als Geschäftsführer der staatlichen Kommission für Versöhnung und Einheit. Kritiker wenden ein, dass das Instrument auch zur Überwachung genutzt werden kann. Das mahnt zur Wachsamkeit. Doch der Ndayisaba will die Chancen nicht außer Acht lassen und ergänzt: „Umuganda kann zu einem gelingenden Miteinander beitragen, weil ein sichtbares Ergebnis im Vordergrund steht.“. Ganz ähnliche Erfahrungen kommen aus Indien. „The Ugly Indian“ ist eine Bürgerinitiative aus Bangalore, die Nachbarschaften aufräumt und renoviert. Sie debattieren nicht und suchen keine Schuldigen. Stattdessen suchen sie Gleichgesinnte und machen sauber. Auch hier betont die Tätigkeit das gemeinsame Ziel und nicht ideologische, gesellschaftliche oder religiöse Unterschiede.

Ndayisaba ist Wirtschaftswissenschaftler und einer der Männer, die mit Erfahrung und Kompetenz die Entwicklung  ihres Landes gestalten. Doch nebenbei bemerkt : Seine einstige Position als Bürgermeister von Kigali hat seit Mai 2018 Marie-Chantal Rwakazina  inne. Sie setzte sich gegen eine Gegenkandidatin durch. Die erste Frau in dieser Position ist sie nicht. Und überhaupt spielen Frauen im politischen Leben des Landes eine wichtige Rolle. Im ruandischen Parlament sind 61,3 Prozent der Abgeordneten weiblich. Damit führt das ostafrikanische Land das internationale Ranking an. In Deutschland sind es 30,7 Prozent.  Aber auch die Hälfte aller Unternehmen in Ruanda wird von weiblichen Führungskräften geleitet.

Ein beeindruckendes Phänomen, was sich nicht unbedingt übertragen lässt. Aber es fordert heraus und mag inspirieren.

Ähnliches gilt beispielsweise auch für die Gerichtsbarkeit. Nach unmittelbarer Beendung des Genozides gab es nicht nur eine Million Ermordete sondern darüber hinaus eine weitaus größere Zahl an Tätern und Traumatisierten. Wie sollte das bewältigt werden?

Pacifique Niyonshuti:
In meiner Kirche heiraten jetzt auch Tutsis und Hutus untereinander.

Die Vereinten Nationren initiierte noch 1994 einen Internationalen Strafgerichtshof in Arusha, Tanzania. Hier wurden 93 Personen angeklagt, 3000 Zeugen gehört und 61 Personen verurteilt. Die Gesamtkosten beliefen sich auf etwa 2 Milliarden US-Dollar.  Unabhängig zu diesem Vorgehen  entwickelten sich Graswurzel Gerichte.  Denn von etwa 800 Richtern hatten nur 20 den Genozid überlebt. Tausende von Gacaca Gerichten verhandelten beinahe 2 Millionen Fälle. Hier wurde massiv auf die Kraft der Versöhnung gesetzt. Täter standen zu ihren grauenvollen taten und machten sie öffentlich. Überlenden standen vor der Herausforderung zu vergeben und ein Zusammenleben wieder zu akzeptieren. Ob diese Gerichtsverfahren Mängel aufgewiesen haben? Wahrscheinlich war das der Fall. Aber Arusha war alles andere als eine gangbare Alternative.

 

Samuel Mugisha:
Die Tour du Rwanda ist das spektakulärste Sportereignis des Landes
Samuel Musgisha gewinnt sie. Er sagt: ‚In unseren Team sind wir Brüder.
Ob er Hutu, Tutsi oder Twa ist. Wir sind Ruander.“

Antoine Rutayisire hat den Prozess Versöhnung mit auf den Weg gebracht. In den unterschiedlichen Wellen an Massakern gegen die Bevölkerungsminderheit der Tutsis hatte der anglikanische Theologe seinen Vater und einen wesentlichen Teil seiner Karriere verloren. Was ihm blieb waren Wut und Hass. Sich mit der Gebrochenheit seines Lebens auseinander zu setzen, was für Rutayisire äußerst schmerzhaft. Als er schließlich in der Bibel über Vergebung las, war dann zu viel für den heute 60 jährigen, wenn er sich heute erinnert:  „Nein, sagte ich zu Gott; das kannst du nicht machen. Wie kannst du es wagen, Menschen vergeben zu wollen, die Dich gekreuzigt haben!“ Schließlich dachte er sich, dass er Hass und Wut aufgeben müsse, um mit Jesus auf dem Weg zu bleiben. In einem schmerzhaften Prozess gelang das auch. Und Rutayisire fragte sich nach dem Genozid; ob persönliche Versöhnung nicht auch für eine Nation gelten könne. Nach Angaben der nationalen Versöhnungs- und Einheitskommission scheint das auch so zu sein. Über 90 Prozent der Bevölkerung waren 2015 nach Umfragen mit den Maßnahmen der Regierung zur Versöhnung einverstanden. Diese Zufriedenheit schloss Solidarität in der Bürgerschaft, Vertrauen in die politische Führung und die Kraft von Vergebung und Versöhnung ein.

Rutayisire unterstreicht das und erläutert: „Versöhnung ist eher eine Verpflichtung als eine Option. Ohne Versöhnung wäre diese Land nicht mehr.

Ohne sie hätte sich dieses Land nicht so schnell entwickelt und wäre nicht so zügig wiederaufgebaut  worden“.  Rutayisire ist ein ambitionierter Mensch wenn es um Versöhnung geht. Naiv und euphorisch ist er nicht. „Ich kann nicht begreifen wie Menschen im Straßenverkehr und in ihren Familien einander anbrüllen, aber den Mördern ihrer Familien von Herzen vergeben konnten.“ sagt er nachdenklich.

Jean Paul Mukunzi: Vergeben ist wichtig. PC Kenntnisse aber auch.

Der Prozess der Versöhnung ist mit fast 25 Jahren so alt wie der Genozid. Und er ist alles andere als abgeschlossen. Jean Paul Mukunzi ist einer derjenigen, die  unermüdlich weiter daran arbeiten. In Gisenyi leitet er die Shalom Community Organisation. Mukunzi glaubt zutiefst an Bekennen von Schuld und Vergebung als festen Bestandteil auf dem Weg zur Versöhnung. Das hält ihn aber nicht davon ab, am Kivu See eine bodenständiges Gemeinwesen zu fördern und erklärt:“ Wir bemühen uns um einen ganzheitlichen Ansatz, der auch Vermittlung grundlegender Computerkenntnisse und den Aufbau kleinerer Unternehmen einschließt“. Als Mukunzi von sich aus erzählt, dass er selbst zur Bevölkerungsgruppe der Hutu gehört, werden seine Augen nass. Und so ist  er in seinem Bestreben um aufrichtigen Dialog eng mit Rutayisire verbunden. Der  sagt: „Ich halte es für die Aufgabe der Kirche, den Mördern zu helfen mit ihrer Schuld und ihrer Scham umzugehen“.

Ein wesentlicher Auftrag der Kirche besteht in Ruanda darin, den Versöhnungsprozess im Bildungssektor zu unterstützen.  Samuel Mutabazi ist ein zentraler Verantwortungsträger in dem Bereich. Das geht nicht so gut im klassischen Frontalunterricht.  „Ich muss doch Schülerinnen und Schülern die Zeit geben, um Rückmeldungen zu geben, “ sagt der Direktor des nationalen Büros für evangelischer Bildung, “oder dass sie in kleinen Gruppen zusammen diskutieren.“  Um Unterricht weniger lehrerzentriert zu gestalten, sind auch Schüler-Clubs ins Leben gerufen worden. Dort diskutieren Schülerinnen und Schüler außerhalb des Unterrichtes miteinander, was zur Versöhnung führt. Mutabazi steht zu seinem Land und der Versöhnung. Gerade deshalb hat er auch die Zukunft im Blick. „Es gibt viele gelungene und gute Aktionen im Prozess der Versöhnung“, sagt Mutabazi,  „Doch gibt es auch noch viel zu tun. Da ist beispielsweise die junge Generation, die keine Arbeit hat. Die haben sogar ein Hochschuldiplom aber sie finden keine Arbeit. Und es mangelt ihnen an Ressourcen um sich selbständig zu machen“.

Am Flughafen müssen wir aussteigen um die Taxe durchleuchten lassen. Das geht entspannt und zügig vor sich. Ich genieße das warme Nachmittagslicht und frage mich noch einmal, was ich von den Erfahrungen Ruandas lernen will. Dann nicken die Beamten uns freundlich zu. Alex lässt den Motor an und ich genieße noch ein ganz klein wenig Lieber auf Kinyarwanda.

 

ein Beitrag von Tom Laengner