Baubotanik

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Wandert man im Sommer auf den aufgeheizten kopfsteingepflasterten Straßen und Plätzen der Innenstadt Wittenbergs und bewegt sich zwischen deren dicht angrenzenden, hell reflektierenden Fassaden der Altstadthäuser, erfasst die eiligen Besucher der Lutherstadt schnell ein überhitzter Schwindel – zwischen Schloss- und Stadtkirche, zwischen Melanchthon- und Lutherhaus, zwischen Marktplatz, den Cranachhöfen, dem Bugenhagenhaus und dem Schloss, speichern die steinernen Oberflächen der Straßen und Gebäude die Wärme des Tages und strahlen sie vehement auf jeden ab, der sich nicht in einen kühlen, schützenden Raum begibt. Begibt man sich jedoch vom Marktplatz aus ein paar Schritte südlich vor die Mauern der ehemals stark befestigten Wallanlagen der Innenstadt, hält der eilige Besucher vermutlich sehr gerne kurz inne – und kühlt ab.

Gerade an besonders heißen Tagen legen sich die Wallanlagen der Stadt wie ein Kühlaggregat um die aufgeheizte Innenstadt. Die vielen großen alten Bäume spenden nicht nur Schatten, sondern die Blattmasse ihrer weit ausladenden Kronen verdunsten im Verlauf eines heißen Sommertages eine Unmenge an Wasser. Da die Verdunstung des Wassers auf der Oberfläche jedes einzelnen Blattes immer ein wenig Energie benötigt, wird der Umgebungsluft Wärmeenergie entzogen. Durch die hohe Anzahl der Blätter, funktionieren die Kronen der alten Bäume wie eine „vegetative Klimaanlage“, durch deren Blattwerk die warme Luft zirkuliert und sich dabei abkühlt. Deshalb waren die mit alten Kastanien und Eichen bewachsenen, südlichen Wallanlagen der Lutherstadt war der passende Ort für den Bildungspavillon der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) während der „Weltausstellung Reformation“ im Jubiläumsjahr 2017.

Er bot nicht nur die klimatischen Voraussetzungen für den Bau eines Pavillons, der den Besuchern während eines voraussichtlich heißen Sommers ein angenehmer Ort zu Verweilen bieten sollte, sondern er war eben auch ein prädestinierter Kontext, um eine baubotanische Architektur zu konstruieren.

Baubotanik ist eine Architektur, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die vorteilhaften Auswirkungen von Pflanzen auf das Klima eines Ortes, mit den Notwendigkeiten des Konstruierens von Bauwerken möglichst ausgewogen zu verknüpfen und diese Verbindung ästhetisch erfahrbar zu machen. Denn Klimaanpassung von Gebäuden und der grünen Infrastruktur von Gebäuden, Stadtteilen, Städten und ganzen urbanen Regionen setzt langfristig wirksame, gesellschaftspolitische Entscheidungen voraus. Baubotanische Konstruktionen sind gesellschaftspolitisch gerade dann sehr effektiv, wenn sie von den Benutzern akzeptiert, verstanden und gepflegt werden. Baubotanik verbessert so nicht nur direkt das Mikroklima vor Ort, sondern ermöglicht Entscheidungsträgern, Akteuren, Bewohnern und sonstigen Nutzer nicht nur eine hohe Aufenthaltsqualität, sondern zudem auch eine gezielt gestaltete Nachvollziehbarkeit ihres Ökosystems. Deswegen ist Baubotanik der nächste, logische Schritt für die Weiterentwicklung von Häusern und der grünen Infrastruktur urbaner Regionen.

So fanden sich die Besucherinnen und Besucher während des Reformationssommers nicht nur zwischen alten Kastanien und Eichen, sondern auch inmitten fünf unterschiedlicher, stählerner Konstruktionen wieder, von denen vier – nach und nach – von Kletterpflanzen überwachsen wurden. Das architektonische Grundprinzip dieser vier Konstruktionen besteht in der Trennung der für die Funktion notwendigen einzelnen Schichten.

 

Um dem Minimalanspruch der jeweiligen Schutzfunktion gerecht zu werden, dienen entweder Segeltuchmembranen, Gittermatten oder Paneele dem Schutz vor Witterung und Diebstahl, während die Pflanzen die schützende Innenhaut verschatten. Der Bildungspavillon ist die erste baubotanische Struktur, die nur für eine Wachstumsperiode temporär an einem Standort aufgestellt worden ist, um nach der Ausstellung im Rahmen eines Neubaus einer evangelischen Schule an andere Stelle in Wittenberg wiederverwendet zu werden.

Dieser Artikel wurde geschrieben von Hannes Schwertfeger, Bureau Baubotanik.